Vom Wert historischer Fenster

Mit der Glasmacherpfeife veränderte sich das technisch Machbare nachhaltig. Die Scheiben konnten in größeren Flächen und kostengünstiger hergestellt werden. Nun wurden sie für den Profanbau verwendet. Belichtung war damit auch bei schlechtem Wetter möglich. Noch immer war die Scheibe als Festverglasung ausgeführt und die Belüftung mittels Laden gegeben. Mit Butzen-, Mond- und Zylinderglas konnte man Flächen realisieren, die den Ausblick nach draußen ermöglichten, ohne das Fenster zu öffnen. Große Scheiben wurden zum Statussymbol, mit dem der Hausbesitzer seinen Wohlstand zeigen konnte. Kleinere Fenster mit Sprossen waren für den schmaleren Geldbeutel schon Luxus. Diese Glasflächen spiegeln die handwerkliche Produktionsweise wider und üben auf uns heute den besonderen Reiz der bewegten Fläche aus. Die Butzenscheibe erlangte sogar »Kultstatus«, wie man heute sagen würde. Eichenholz und Butzenscheiben waren in der wilhelminischen Zeit Synonym für Deutschtum schlechthin. In unserer Zeit der industriellen Perfektion (Floatglas) lernen wir den individuellen Charakter einer manuellen Herstellung, bei der jedes Stück ein Unikat ist, wieder schätzen. Anforderungen des Marktes bedingen immer neue Entwicklungen. Eine große Nachfrage durch die Bautätigkeit Ende des 19. Jahrhunderts führte zu Fourcaults Erfindung des maschinellen Ziehglases. Selbst diese gewellten Scheiben haben durch die Verzerrungen beim Durchblicken ihren Reiz. Man spürt die Ebene zwischen drinnen und draußen. In der Außenansicht werden die Fassaden durch verschiedene Lichtbrechungen in der Fensterebene belebt. Die modernen Glasflächen lassen die Maueröffnungen tot erscheinen – wie Menschen, aus deren Augen der Glanz und das Funkeln gewichen ist und in denen Tristesse und Leblosigkeit Einzug gehalten haben. Durch übertriebene Strukturen der Ornamentgläser (Butzenglas, verschiedene Neuantikimitationen usw.) versuchte man, den Wunsch nach Individualität zu befriedigen. Die Lösungen sind meist mehr als peinlich. Das Gespür für das Echte und Wertvolle ist durch die Gewöhnung an die Imitate leider verlorengegangen. Den Sinn für die feinen Strukturen der handgearbeiteten Scheiben zu wecken, ist Teil unserer Aufgaben bei der Beratung von Denkmaleigentümern.

Autor
Christoph Binzler
Datum
24.05.2016 - 13:17